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Das schnelle Portrait

by Peter Raffelt. Average Reading Time: about 2 minutes.

Folgendes Gedankenspiel: Sie sind Freier Redakteur, haben einen Interviewtermin mit einem Politiker erhalten und wollen sich nun darauf vorbereiten. Sie rufen den Fotografen des Magazins an, der das Portrait ihres Interviewpartners machen soll, um sich zu besprechen.

Der Fotograf sagt Ihnen, das alles etwas schwierig ist. 20 Minuten des halbstündigen Termins sind für das Foto reserviert, eigentlich benötigt er aber mehr Zeit und bittet sie, nur in den letzten 5 Minuten ihre Fragen zu stellen. Zähneknirschend fügen sie sich, sonst erhalten sie überhaupt keine Möglichkeit ihre Fragen zu stellen.

Der Termin verläuft dann doch eher schwierig. Da der Fotograf sich nach seinem Portrait Shooting noch etwas mit dem Interviewpartner unterhält, bleiben ihnen nur knapp 3 Minuten, um ihre Fragen anzubringen. Nachdem sie ihr Interview in die Redaktion schicken, ist man dort enttäuscht vom Ergebnis. Das ist alles etwas dürftig, gehe nicht so in die Tiefe, wie man sich das vorgestellt hat.

Die Situation spitzt sich aber noch zu, da man sehr froh über das Ergebnis der fotografierten Portraits ist und denen unbedingt noch mehr Platz einräumen will. Natürlich kann man den Text des Interviews noch kleiner machen, wichtig ist, dass die Bilder den entsprechenden Raum erhalten.

Alles in allem läuft es diesmal nicht gut für sie: Am Ende taucht eine Frage und die dazugehörige Antwort unter den tollen Bildern auf. Na ja, ein Bild sagt halt mehr, als …

Schnitt!

Portrait of Daniel W. Kessler

Daniel W. Kessler of the National Bureau of Standards with device used to test slabs of marble over long periods of time. From Library of Congress

 

So, oder so ähnlich, laufen immer noch Interviewtermine mit Politikern oder CEOs in Deutschland ab, mit dem klitzekleinen Unterschied, dass die Rollen natürlich vertauscht sind. Nicht der Textredakteur hat so wenig Zeit, sondern der Fotograf.

Obwohl einigen Textkollegen schon bewusst ist, dass die Wahrscheinlichkeit der Rezeption ihres Textes mit der Qualität der fotografierten und gedruckten Portraits steigt, führt dies selten dazu, dass entsprechend vorausschauend mit der geringen Zeit umgegangen wird.

Im Grunde ist es eine „lose/lose“ Situation. Natürlich sind am Ende eines Interviews immer noch zahlreiche Fragen nicht gestellt. Die Zeit scheint immer knapp bemessen zu sein. Die Ansprüche der Fotoredaktion (Hoch- und Querformate, ganze Figur, CloseUp, Editorial Portrait mit tollem Licht, komplette Nutzungsrechte, total released) steigen anscheinend umgekehrt proportional zum angebotenen Honorar.

Oder wie es mir ein Fotograf und Freund schrieb: „Die Wünsche der Fotoredaktion scheinen sich gerne an Annie Leibowitz zu orientieren, die aber bekanntlich ein wahres Heer von Assistenten und quasi unbegrenzt viel Zeit hat.“

Letzte Woche kam ein Kollege zu mir, um einen Fotografen für ein Interview mit Jeff Bezos (Amazon, Washington Post) in Seattle zu bestellen. Es gibt ein Zeitfenster von ca. 30 Minuten. Auf meine Frage, ob das Foto in den 30 Minuten vor oder nachdem Interview gemacht werden soll, kam die Antwort: „Die 30 Minuten sind nur für das Foto vorgesehen, das Interview findet einen Tag früher statt.“

Vielleicht liegt hier die Lösung des Problems? Was halten sie davon, liebe Pressesprecher und Public Relations Abteilungen?

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